Ende der Welt

Reisebericht von Kai-Uwe Thiessenhusen


Teil V: Der 1.Tag im hohen Norden



Apatity, Sa, 17.08.2003

In die Innenstadt sind es 3km, durch illegales Gleisüberschreiten könnte man vielleicht etwas einsparen, aber ob man halb 5 oder um 5 morgens in Apatity Downtown ankommt, ist vielleicht nicht sooo entscheidend.
Nördlich des Bahnhofs eine Brücke, mit Blick auf die Berge. Und im Vordergrund ein großes Werk. Versaut ein wenig die Idylle, aber ohne dieses Werk wären wir ja gar nicht dorthin gefahren.
Uns kommt eine Frau entgegen, merklich alkoholisiert. Anscheinend von irgendeiner Party heimkehrend und sichtlich erstaunt über uns. Ausfragen, was wir machen (nach der Kem-Geschichte bin ich mißtrauisch; und wittere erst einmal überall Polizisten). "Wohin?", "Gostiniza", Hotel. "Das ist weit. Warum nehmt ihr denn kein Taxi?" Mal abgesehen davon, daß es ein schöner Morgen ist, wissen wir ja sowieso nicht, was wir so früh hier sollen. Und dann kommt das scheinbar leidige Thema Fotografie: "Werk-Objekt. Bahn-Objekt. Objekte fotografieren- verboten!" (Ich sage lieber nicht, daß wir eigentlich genau deswegen hier sind).

Eine Einladung zu ihr schlagen wir aus. In die Stadt, lieber jedem Polizisten aus dem Weg gehen. Aber fortan stört sich keiner mehr an uns. Die Stadt ist eine Gründung aus den späten 60er Jahren, und sieht auch so aus, nur der Bahnhof ist älter. 70000 Einwohner, die zweitgrößte Stadt des Murmansker Gebietes. Langsam ist es fünf Uhr, die Party- und Diskogänger gehen nach Hause, die ersten Tagaktiven sind schon auf den Beinen.
Wir suchen das Hotel. (Ein sich wiederholender Eindruck: Russische Infrastruktur ist oft durchaus vorhanden und gar nicht so schlecht, aber nicht selten nur sehr mühsam zu finden, nicht ausgeschildert, usw.)
Dann ein kleines Schild: "Gostiniza Amatyst" an einem Plattenbau. Tür ist natürlich zu; und niemand von uns kann sich dazu aufraffen, kurz nach 5 Uhr morgens einen Diensthabenden aus dem Schlaf zu reißen.

Bushaltestelle, diverse Leute warten, und wir beschließen, erst einmal mit dem Bus ins 20km entfernte Kirowsk zu fahren. Irgendwann kommt ein russisches Uraltteil (oder zumindest uralt aussehend, wenn auch sicher sehr nett, wenn gepflegter). Marktwirtschaftliche Preise (9,90 pro Person) und planwirtschaftliche Zettelfahrscheine, wegen des krummen Preises einen ganzen Batzen davon.
Für Sonnabend frühmorgens erstaunlich gut gefüllt. Diverse Pilz- oder Beerensammler sind schon auf den Beinen. Volkssport dort.

Dann wird's städtisch...Kirowsk. Wir steigen mit den Massen aus, und ein paar hundert Meter hinter uns gibt es ein Hotel, wo sogar, oh Wunder, groß "Hotel" dransteht. "Ekkos" heißt das Haus.
Hotel Ekkos in Kirowsk

Eine freundliche Pförtnerin schickt uns in den vierten Stock, dort trinkt eine alte Dame im Salon Tee und scheint nicht im mindesten erstaunt über eincheckwillige Gäste um 6 Uhr morgens. Nett eingerichtes Dreimannzimmer mit Fernseher, Küche und Bad für 300 Rubel, knapp 10 Euro pro Nase. (Einziger Wermutstropfen: es ist nichts für Warmduscher. Diese hängt anscheinend an der Heizung dran und die ist wiederum kaputt oder einfach noch nicht an) Wir sind, wie sich später herausstellt, die einzigen Gäste.
Zwei Stunden Ruhepause, dann scheucht uns unser Cheffotograf hoch; die Sonne ist nun über die Berge gewandert und es sind Züge zu fotografieren.

Dahin, wo wir die Gleise vermuten; am Nordrand des Stadtzentrums ein wunderschöner Blick auf einen See, dahinter die Berge des Chibiny-Gebirges, strahlender Sonnenschein. Vor dem See eine Ruine eines einstmals prachtvollen großen Gebäudes: der Bahnhof.
Die Bahnhosruine von Kirowsk.

"Lonely Planet" behauptet, es kursierten Gerüchte, Stalin sei der erste und einzige Fahrgast gewesen. Einheimische erzählen uns, es hätte bis weit in die erste Hälfte der 90er noch Elektrischkas nach Apatity und Kandalakscha gegeben.

Fahrleitung gibt es nicht mehr, und die Gleise sind unbefahren oder auch schon ganz und gar weg. Aus der neuesten Ausgabe des Eisenbahnatlas Russland ist (Apatity)-Titan-Kirowsk verschwunden, in vorigen war die Strecke noch drin.

Der Grund, warum Kirowsk aber auch für neuzeitliche Pufferküsser interessant ist, liegt weniger Meter dahinter: die Apatitbahn.
Das Chibiny-Gebirge ist voll von geologisch interessanten Mineralien. Einer speziellen Substanz verdanken beide Städte, Apatity und Kirowsk ihre Existenz, wie der Name schon sagt: Apatit (was zur Phosphorgewinnung dient).

Nach der Entdeckung wurde 1929 das erste Bergwerk eroeffnet, dazu eine Stadt am See namens Chibinogorsk Verarbeitungswerk). 1934 wurde der (anscheinend recht populäre) Parteiführer von Leningrad und Murmansk, Sergej Kirow, ermordet (was Stalin zum Anlaß für die bekannten Repressalien in den Folgejahren nahm) und die Stadt nach ihm Kirowsk genannt.
(Kirow und Eisenbahn: das Kirow-Werk[1] heißt immer noch so und ist nach eigenen Angaben Weltmarktführer beim Bau von Eisenbahnkränen).
Und es entstand eine Eisenbahn vom Abbaugebiet an die (1916 eröffnete) Strecke nach Murmansk. Kirowsk - Apatity - Kandalakscha (südlich von Apatity, Hafen am Weißen Meer) wurde 34/35 elektrifiziert, die erste elektrifizierte Strecke weit und breit, wenige Jahre später, 1938, folgte das Stück nach Murmansk.
Im selben Jahr wurden die ersten Elektroloks der Baureihe WL22 ("WL" steht für Wladimir Lenin) gebaut. Ob man bei der Entwicklung gerade diese Region im Auge hatte, weiß ich nicht. Aber die zeitliche Korrelation ist da, und heute fahren sie immer noch dort auf dieser Werkbahn (und zumindest fast wohl auch *nur* dort. es gibt Gerüchte, daß sie in Georgien noch fahren sollen, vielleicht auch noch im Ural), wenn auch in einer leicht modifizierten Version aus den ersten Nachkriegsjahren.
Das ist er - der Uran aller russischen Ellektroloks.

Die heutige Apatitbahn führt von den Tage- und Untertagebauen östlich von Kirowsk (dazu später mehr) zu den Verarbeitungswerken bei Apatity, Hauptast zweigleisig.
Die Züge bestehen aus etwa 20 Wagen. In Ost-West-Richtung voll mit Erz, manchmal auch mit Abraum. Für einen Umlauf (ca. 2 x 25km Fahrt, Be- und Entladen) brauchen die Züge ca. 6 Stunden. Typischerweise fahren 7-8 Garnituren auf der Strecke (d.h. etwas mehr als ein Zug pro Stunde und Richtung im Durchschnitt), etwa 2 davon fahren mit den WL10, eine mit der großen WL15 und der Rest eben mit den WL22, grundsätzlich in Doppeltraktion [2].
Waehrend die WL10 in Petersburg noch ein Anlass zum Stauen waren, sind wir hier eher enttäuscht, wenn eine kommt. Auch die WL15 kommt trotz ihrer Seltenheit nicht an die WL22 heran [3]. Diese sind einfach nur toll, schöner Sound, rumpeln und quietschen, und mit einem Schiffshorn... Klingt jedenfalls so.
Ihr Erhaltungszustand ist sehr unterschiedlich. Manche sehen recht schlimm aus, andere dagegen mit frischem Anstrich versehen.
Fotomotive finden sich auch für den faulen Fotografen in Kirowsk in Hülle und Fülle: Nördlich der Stadt geht die Strecke ein ganzes Ende am Seeufer 'lang, daran schließt sich die Durchfahrt durchs Fabrikgelände an, 30er-Jahre bauten. Auf der einen Seite das alte Apatitverarbeitungswerk (heute dicht), gegenüber das alten kleine Kraftwerk (noch Restbetrieb)
Kirowsk aus der Vogelperspektive: ganz links das Hotel, rechts die alte Apatitfabrik, im Vordergrund rechts der See und davor die Apatitbahn.


Dahinter knickt die Strecke um und verläuft westlich der Stadt malerisch durch eine Art Canon.
Dort läßt sich schön der Nachmittag verbringen; wenn kein Zug kommt, kann man gemütlich in der Natur unter der Polarsonne liegen.
Eigentlich ist mit diesen Schilderungen fast der ganze Tag beschrieben. Zu ergänzen wäre noch die Nutzung der örtlichen Infrastruktur (Laden mit Imbiss "Cafe Zodiak" mittags, Restaurant "Wetschernaja" abends), aber das schiebe ich lieber in den nächsten Teil. Ich glaube, Florian und ich haben Mittags noch etwas geschlafen oder waren allein im "Zodiak"? Ich weiß gar nicht mehr. Thomas hat jedenfalls den Canon zunächst allein entdeckt. Abends zieht sich sein Restaurantbesuch etwas mehr in die Kürze als bei uns, für ihn schließt sich noch Wanderung samt Betriebsbahnhofsbesichtigung an.


Die erste polare Nacht beginnt. Drei Stunden Dämmerung.



[1] in Leipzig. ( http://www.kirow.de )

[2] Bilder von der WL22 im Betrieb auf deutsch- oder englischsprachigen Internetseiten sind relativ rar. Auf russischen Seiten findet man mehr im Netz z.B. unter http://www.freecfm.com/r/railroad/L9/VL22-photo.html . Auf der Apatitbahn fahren die Loks grundsätzlich in Doppeltraktion. Einige Photos auf dieser Seite stammen von dort bzw. von durchgehenden Zuegen von Kirowsk auf die Hauptbahn (geht ja wg. Umelektrifizerung letzterer heute nicht mehr mit Gleichstromloks). Weil die Ortsnamen auf kyrillisch sind, hier die entsprechenden Nummern zum Suchen: 565 , 1049, 1551, 1662/1546, 1693/1006, 2023/2024.
Ersetzt man die 22 in obiger URL durch eine 10, 15, oder 80 findet man viele (WL10 und WL80) bzw. zwei (WL15) Bilder der entsprechenden hier genannten Loks; die beiden WL15 Bilder stammen aus Kandalakscha zu Gleichstromzeiten.