Ende der Welt

Reisebericht von Kai-Uwe Thiessenhusen


Teil VI: Entdeckungen am Rande des Apatits



Kirowsk.
So, 18.8.

Die Stadt ist ein gar nicht mal so unansehnliches Gebilde mit realsozialistischen Bauten verschiedener Epochen. Die Form ist etwa ein gleichseitiges Dreieck. An der Spitze, am See, die Fabrikgelände. (Irgendwie haben die Russen ein Talent dafür, so etwas mitten in die schönste Landschaft zu klotzen.) Die Apatitfabrik ist dicht und Ruine, das Kraftwerk hat noch einen kleinen Restbetrieb.
Natur und Industrie - Friedlich vereint?

So dampft es ein wenig aus den Ruinen. Ein Stück daneben die schon erwähnte Bahnhofsruine. In der nächsten Reihe in der Mitte das Zentrum bestehend aus 30er und 50er-Jahre-Bauten, zu den Seiten 60er Jahre Plattenbauten. Die nächste Reihe enthält außen 60erJahre-Blocks und in der Mitte einen Hügel mit Kulturhaus und dergleichen. An der Basis außen neuere Plattenbauten und in der Mitte ein kleiner See und ein Wäldchen. An den Rändern diverse Garagenkomplexe. Anscheinend ist die soziale Ordnung hier noch intakt, Haustüren sperrangelweit offen.

Staat im Staate: die Apatit AG. Ihr gehoeren nicht nur Werk (samt Bahn, versteht sich) sondern die halbe Stadt, diverse Laeden usw. Die AG ist, so sagt man uns, weitgehend in deutschem Besitz. Und so soll es diverse Gueterzuege Apatity-Ludwigshafen geben, ob mit Umspuren oder -laden, weiß ich freilich nicht. Abbautendenz: steigend.
Denkmäler: der unvermeidliche Lenin im Zentrum, Kirow natürlich (vor dem Hotel) und der Herr vor der Schule, ohne Beschriftung, hat einen verdammte Ähnlichkeit mit Josef Wissarionowitsch D. alias S. aus Georgien.

Hier, weit nördlich des Polarkreises ist die Baumgrenze niedrig. So sind die Berge nur an ihren Füßen bewaldet, ansonsten mit Gras, Büschen, und diversen Beeren bewachsen, und oben (maximal erreicht das Gebirge fast 1300m) ganz nackt. So gibt es überall wunderschöne Ausblicke.
Wanderung auf einen Berg im Süden der Stadt. Diverse Seilbahnen/Sessellifte führen hinauf. Kirowsk ist Wintersportzentrum. Im März-April, wenn noch jede Menge Schnee liegt, aber die Tage schon lang sind, sollen Massen von Touristen dort sein.
Vor allem wird viel Abfahrtsfahren und Snowboard gemacht, es soll auch gute Buckelpisten geben. Unten am Hang stehen auch zwei Sprungschanzen, die von Thomas und Florian später noch ausgiebig inspiziert werden.

Trübes Wetter (nur deswegen hatte ja der Cheffotograf sich eine Bergwanderung genehmigt). Dennoch nette Blicke auf Stadt und See. Unten Gesellschaft diverse Pilz- oder Beerensammler, oben bis auf zwei Wanderer allein. Meistens gehen wir auf einem ziemlich kaputten Seilbahnkabelschacht. Es nieselt.
Gipfel ist vielleicht 1km seitlich und 200 Höhenmeter entfernt. Ich möchte gerne 'rauf, aber die beiden Weichduscher sträuben sich... Mistwetter. Immerhin hat man schon zu drei Seiten Ausblick: Nach Norden Kirowsk; nach Süden ein Tal mit einer neugebauten Straße zu einem Wintersportzentrum, (Inhaber, wer sonst, die Apatit AG) dahinter der nächste Berg. Nach Westen runter in die Ebene, Apatity und diverse Seen. Bei besserem Wetter wäre das richtig toll.

Und siehe, da kommt ein Tourist an. Jedenfalls sieht er so aus, als hätte er in den Bergen übernachtet. Riesiger Rucksack. Wir kommen ins Gespräch. Igor heißt er, und ist mitnichten ein Tourist, sondern ein Einheimischer, sogar ein Kirowsker Ureinwohner. Und der Rucksack dient ganz speziellen Zwecken: darin ist nämlich ein Gleitschirm drin. In den Bergen geht das nämlich sehr gut. Diskussion; Igor radebrecht englisch.
Trennung des Reisekollektivs: Thomas und Florian gehen 'runter, Igor (der hat Zeit, weil er auf besseres Wetter wartet) auf den Gipfel. Er meint, der Weg rauf und runter würde nur eine halbe Stunde dauern, Thomas und Florian rechnen mit zwei; die Wahrheit liegt in der (geometrischen) Mitte. Wobei Igor sicher nicht mein unzureichendes Schuhwerk einkalkuliert hat; leichte Stoffschuhe mit dünnen Sohlen, durch die man jeden Stein merkt. Dadurch bin ich klar langsamer als er. Bißchen erzählen, nun auf russisch.

'Rauf geht es recht leicht. Oben dann auch der Blick Richtung Osten: es geht steil runter, unten ein Tal und ein Bergwerk, dahinter neue Berge. Auch Ri. Süden vorm nächsten Berg ist eine enge Schlucht.
Runter gehts schwieriger. Wir gehen nicht auf dem Kamm, sondern seitlich über eine Geröllhalde.
An der Seilbahnstation prüft Igor mit einem Spezialdetektor (sieht aus wie eine Zigarette und wird hinterher auch aufgeraucht) die Windrichtung. Er befindet den Wind für gut, und so trennt sich auch dieses temporäre Reisekollektiv auf ungewöhnlicher Weise: Igor packt seinen Schirm aus, holt Anlauf und segelt runter.
Und Abflug, der Gleitschirm segelt auf Kirowsk zu.

Ich muß zu Fuß gehen. Eine von den Seilbahnen fährt zu meiner Überraschung, die ist aber schon zu weit weg. Probebetrieb; einziger echter Kunde wird ein Gleitschirmflieger sein, der nach seinem Flug so noch leicht zu einem zweiten kommt.
Begegnung mit Moskauer Touristen (so ziemlich die einzigen Touristen, die wir in Kirowsk sahen), die in Kandalakscha Urlaub machen und mal für einen Tag in die Berge gefahren sind. Sie sind sehr begeistert von dem Gleitschirmflieger...
Durch ein Wäldchen, und dann dorthin, von wo mich der Sound schon auf dem Berg angelockt hatte: auf den Fußballplatz. Es spielt Apatit Kirowsk gegen Gornjak Kowdor. Kirowsk schießt gerade das 8:0. Die Meisterschaft der Murmansker Oblast wird, so entnehme ich es einer vor dem Stadion hängenden Tafel, von drei Mannschaften dominiert. Kirowsk ist klarer Dritter, gewinnt hoch gegen die Mannschafte des unteren Tabellendrittels, aber zwei sind noch besser.
Im Hotel warten Thomas und Florian und wir machen uns auf zu einer Siedlung namens Kukiswummtschorr (diese komisch klingenden Namen sind übrigens keineswegs russischen Ursprungs, sondern lappisch, läppisch, samisch oder wie auch immer diese Sprache heißen mag). Kukiswummtschorr versteht man nicht; Km 25 sagt man, die Siedlung ist genau 25km von Apatity entfernt. Siedlung ungepflegter als Kirowsk, und am Bergwerk ist Schluß. Das ist das älteste Bergwerk der Region; 1929 ging es hier los. Auch viele Häuser in der Siedlung stammen aus dieser Zeit. "Bergwerk" ist wörtlich zu nehmen. Hier werden Berge verarbeitet. Dort, wo mal ein Berg (grob geschätzt) 600m über die Umgebung ragte, ist nun ein Loch. Faszinierend. "Lonely Planet" spekuliert über die Möglichkeit, daß man Atombomben dazu genommen hätte, ist aber sowohl lt. Aussagen Einheimischer als auch meiner Plausibilitätsschätzung Quatsch. Da ist ja den Faktor Zeit als auch schwere Technik und billige (teilweise Zwangs-)arbeitskräfte.
Wir treffen eine Frau, schon leicht alkoholisiert. Ich habe Schwierigkeiten, ihren (belorussischen) Dialekt zu verstehen. Sie erzählt: "Ja nicht reingehen, verboten!". Klar doch. Dann führt sie uns doch 'rein, um uns zu zeigen, wo das Denkmal für die Errichtung des ersten Bergwerkes hier, 1929, ist. EIn Stück weiter eine Verladeanlage für die Züge. Sie erzählt dann ein wenig mehr aus ihrem harten Arbeitsleben dort. Ein neues Wort lernen wir: "wsorwatch", sprengen.

Dann führt sie uns durch den Ort, zeigt wo das Museum ist (natürlich auch völlig versteckt; und um diese Zeit freilich geschlossen). Mir geht die ganze Sache irgendwie recht nahe, und ich kann den ganzen Abend mit Thomas und Florian nicht so recht etwas anfangen, nachdem die auf einen unbedingten raschen Aufbruch drängen.
Die alte Dame rennt dann mit uns zum Bus, weil es zeitlich knapp wird.

Wir fahren dann in die Stadt, wieder ins Cafe Wetschernaja.
Mal etwas zur gastronomischen Versorgung, mehr oder weniger typisch für Russland:
Was es gibt, sind Läden. Jede Menge, viele lange auf, teils rund um die Uhr. Seltsam: Selbstbedienung gibt es fast nirgends mehr; auch in den einstigen Kaufhallen sind nun kleine Stände eingebaut. In den meisten Läden muß man sich für Fleisch, Getränke etc. mehrfach anstellen.
Selbst ist der Gastronom - zumindest die Einkäufer an diesem Stand vor dem (ehemaligen) Kino "Bolschewik" sind es garantiert.



Vor 5 Jahren in Moskau war ich über Supermärkte erstaunt, die fast völlig frei von einheimischen Waren waren. Nur Westzeugs zu Westpreisen. Nach der Rubelabwertung ist das nun anderes geworden.
Ebenfalls überall vorhanden (und auch an fast allen halbwegs großen Bahnhöfen): Kioske mit Kleinkram zum Fressen und Saufen. In Kirowsk gibt's die- rund um die Uhr- an vielen Bushaltestellen mit angebauter Wartehalle. Hätte doch was..
In diversen Läden stehen ein paar Stühle, wo man sich hinsetzen und Kaffee, Wodka, Bier oder einen Imbiss zu sich nehmen kann.
Kneipen, im Sinne von Bistros (dieses Wort mit "i" als zweiten Buchstaben findet sich auch an diversen Etablissements, Rücktransfer ins Russische sozusagen) oder richtige Stampen gibt es einige; richtige Restaurants sind dagegen rar. Cafes sind das Zwischenglied, je nachdem tendieren sie mehr Richtung Bistro oder Restaurant. Das Wetschernaja eher zu letzterem; recht angenehmer Platz. Es gibt auch Internet dort, aber an dem Abend irgendwie nicht.

Essen ist gut. Angeblich essen nur 1% aller Russen öfter als einmal im Jahr im Restaurant. Einerseits mag dies sicherlich damit begründet sein, daß es für sie recht teuer ist. [Für uns ist es das absolut nicht, für umgerechnet 2 Euro bekommt man schon was Gutes.] Andererseits dürfte das ganze auch traditionell begründet sein; wenn ich sehe, wie gut diverse Schaschlykstände frequentiert werden. Fleisch ist teuer, 200g Schaschlyk, nicht so sehr viel, kosten schon 80 Rubel oder so, 2,5 Euro.
Bier in Russland: ok.
Warnung: Kaffee. Irgendwie ist löslicher Kaffee groß in Mode gekommen. Es gibt praktisch nirgendwo etwas anderes. Auch die Teetradition scheint weitgehend vorbei. Tee macht man so, wie anderswo auch: Papier ins Wasser.

Mo, 19.8 2002

Es regnet (was auf dieser Tour sehr selten vorkommt). Wandern ist nicht, Lokfotografieren auch nicht. Bleibt die Stadt. Apatity... Taktlücke, d.h. es gibt ja keinen Takt, nur die Überlagerung mehrere Linien, und ein wenig Pech. Lange warten.
Das Busangebot besteht aus diversen Linien. Busse mit ein- oder zweistelligen Liniennummern sind im reinen Ortsverkehr, Hunderternummern dagegen verbinden die Orte in der Umgebung, was in diesem Fall meist heißt: Apatity und Kirowsk. Es gibt mehrere Endstellen in der Stadt, die natürlich so ziemlich jede mit jeder verbunden werden. Leningradskaja, Olympiskaja (zwei Neubaugebiete im Süden und Osten der Stadt), Km 25, Raswummtschorr (auch ein Bergwerk, allerdings ohne Siedlung dabei). Für die Stadtbusse gibt es noch eine Endstelle im Westen der Stadt Ri. Apatity.

http://www.apatity.mels.ru/travel/avtoblg.htm enthält diverse Fahrpläne. An den Haltestellen finden sich kaum welche, namentlich in Apatity haben wir auch an den großen Stationen keine gesehen. Dagegen fanden sich Abfahrtspläne an der Haupthaltestelle in Kirowsk (gegenüber der Post) und an den dortigen Endpunkt.
Fahrzeuge:
meist sind es etwas ältere Busse sowjetischer Herkunft im sehr unterschiedlichen Pflegezustand (von ok. bis ziemlich heruntergekommen). Ergaenzt wird das ganze durch einige alte Scania-Busse, die, so wirbt man, mal in Tromsö oder Lofoten dienten.
Zwei Busse, die mal in Deutschland fuhren. Der eine in Niedersachsen, der andere wirbt damit, daß die anscheinend weltweit operierende Firma Spielwaren-Stemmler (oder so) irgendwo sitzt. Leider sagen sie dem interessierten Kirowsker Kunden nicht, in welcher Stadt. Der Telefonvorwahl nach ist es Bayreuth.
Grundsdtzlich Schaffnerbetrieb, Fahrpreis innerstädtisch 5 Rubel, Kirowsk Mitte- Apatity 9,90. Die Busse Ri. Apatity werden noch durch diverse Minibusse ergänzt, ohne festen Fahrplan, und einen Rubel teurer als die richtigen Busse (d.h 11 statt 9,90.

Stadtbus in Apatity.

Die meisten Überlandbusse fahren nur bis Apatity Innenstadt, der westlich davon gelegene Bahnhof wird nur von einer Linie aus Kirowsk bedient, etwa 15 Fahrten/pro Tag und Nachtbusse fast jede Stunde.
Irgendwann ein Bus.
Apatity: mit 80000 Einwohnern nach Murmansk die zweitgrößte Stadt der Region; allerdings nur halb so alt wie Kirowsk, und so baulich wenig interessant. Museen: ja, geologisches... Steinhaufen besichtigen. Diesmal allerdings wirklich eine Ansammlung von verschiedenen Mineralien und kein Gebäude...
Ansonsten rumrennen. Irgendwo kaufen wir Filme. Es gibt eine Zenit-Kamera (russische Produktion) für 1200 Rubel, 40 Euro, Spiegelreflex, und Thomas überlegt, sich eine zu kaufen, kann sich aber doch nicht so recht entscheiden. Mir geht es ähnlich.

Mittagessen, eine Kneipe behagt uns nicht so, nebenan gibt es ein nettes, bierfreies, Cafe.

Einkaufen in Apatity - nur echt im Blechkiosk.

In einem Buchladen gibt es diverse nette Bücher vom Chibiny-Gebirge, und sogar Ansichtskarten von Apatity, an den Zeitungskiosken waren sie Fehlanzeige, da gibt's nur Murmansk. Zeitungen: allenfalls vom Vortag. Ist generell so. Was es allenfalls gibt, sind einige lokale Blättchen; die Murmansker kommen einen Tag später, die zentralen auch. Frühestens. Es liegen auch noch ältere herum, die anscheinend auch Absatz finden. (Eine Dame an einem Zeitungskiosk ist recht geschäftstüchtig, und wollte uns neben den Murmansker Karten noch eine Kinder-Karikatur-Landkarte der Kola-Halbinsel verkaufen. Ganz lustig, aber wohl kaum heil nach Deutschland zu kriegen.
Einkaufen. Läden. Nachmittags scheint die Sonne durchzukommen. Thomas will also sofort zurück nach Kirowsk; ich habe ein Internetcafe entdeckt, und möchte erstmal dahin. Nach kurzer Diskussion ist ein Kompromiss gefunden.
Nach einer halben Stunde mit dem Bus nach Kirowsk; dort ist keine Sonne, im Gegenteil. Wir untersuchen die Motivizität der Bahn-Einfahrt (nettes Viadukt).
Ein paar Tage später klappt das dann auch mit dem Viadukt in der Sonne.

Dann gehen wieder in einen Supermarkt. Thomas, und dann auch mir, kommen sentimentale Erinnerungen: diese Konservendosenpyramiden im Regal sehen doch aus wie früher in der DDR (und eigentlich sehen sie auch gar nicht so schlecht aus).

Telefon. Telefonzellen für Ferngespräche gibt es nicht. Es gibt welche für Ortsgespräche (1 Rubel), und im Postgebäude ein Telefonzentrum. Anscheinend eine Ausgründung, hat auch länger auf als die Post. Dort zahlt man am Schalter, darf dann von einer Zelle telefonieren und bekommt das nicht vertelefonierte Geld hinterher zurück. 1 Minute Deutschland kostet etwa 1 Euro. Ich höre, daß Deutschland unter Wasser steht. (Seltsame Korrelation: bei der Oderflut vor 5 Jahren war ich auch in Rußland).

Abends bei Igor. Wir müssen ein wenig suchen, bis wir die richtige Nummer im Plattenbaugebiet gefunden haben. Wohnung geräumig und nett eingerichtet, Igors Frau, Lena, auch sehr nett.
Es gibt Abendbrot, zum Glück nicht so opulent, wie man es bei Russen auch bekommen kann, sondern normal. Fühlen wir uns nicht ganz so in Igors Schuld. Viele Bilder gibt's zu sehen; Igor fotografiert gerne. Und ein Video von einer Fahrt an die Nordküste der Halbinsel.
Außerdem hat Igor ein ganz besonderes Hobby: aus Zahnstochern Holzkirchen und ähnliches nachbauen. Er meint, es sei einfach, das einzige, was man bräuchte, wäre Geduld. Also genau das richtige Hobby für mich....
Irgendwann sind wir uns unsicher, ob wir denen nicht zu sehr auf den Wecker fallen, und hauen gegen 23Uhr ab.