Ende der Welt

Reisebericht von Kai-Uwe Thiessenhusen


Teil I: Auf nach Königsberg


Sa, 10.8.2002

Natürlich hat die Welt kein richtiges Ende. Aber wenn sich in einem engen Gebiet eine in verschiedener Hinsicht ausgeprägte geographische Endlage(auch und besonders in eisenbahniger Hinsicht) sich mit etwas trifft, für das "Endzeitstimmung" eher eine ausgeprägt euphemistische Formulierung ist (siehe obiges Zitat über die Stadt am Ende), so ist "Ende der Welt" vielleicht doch nicht übertrieben, oder?

Aber dort sind wir noch lange nicht. Erstmal bleiben wir in heimischen Breiten. Allerdings soll für manche Leute, namentlich in den westlichsten Teilen Berlins, schon Berlin-Lichtenberg das Ende der Welt sein. Das ist zwar Unfug, enthält aber einen kleinen wahren Kern: Züge zu den Zielen, die noch den ganzen Mann/die ganze Frau erfordern (wie Saratow, Nowosibirsk, Gera oder Astany) beginnen eben dort und nicht auf der Stadtbahn. Und so steht auch unser Zug dort neben dem Talgo nach München (den ich in den letzten Wochen viermal benutzt habe, nicht schon wieder...) auf dem Bahnsteig bereit: der D345 nach Kiew. [Dessen Zugnamen "Kasztan" scheint es nur im PKP-Kursbuch zu geben]
Bf Berlin-Lichtenberg, am Abend der Abreise. Der bunte D345 steht bereit.

Freilich, wir steigen nicht in die Hartduscherwagen ein. Auf uns wartet ganz bescheiden am Schluß der Liegewagen nach "Ge-de-ü-en-i-a", wie die netten jungen Damen im Abteil ihr Fahrziel buchstabieren. Gut gefüllt; Kunststück, wenn man die Leute, die einstmals einen ganzen Zug füllen sollten, und dies manchmal auch sogar taten, nun in zwei Wagen transportieren will.

[Berlin Lichtenberg -Poznan D345 (112 168 bis Frankfurt), Poznan-Tczew Posp. 65203; 21.38 - 5.42 (11.8)]

Einrichten im Liegewagen, am offenen Fenster durch die dunklen Kurven in Wuhlheide, kurzer Halt am neuen Bahnsteig in Fürstenwalde, dann Frankfurt. Dort wie üblich Wartezeit, Lokwechsel, Grenzkontrolle. Nein, wir am Ende (noch nicht der Welt, aber des Zuges) sind für die uninteressant. Die Deutschen kommen gar nicht, und die Polen werfen erst in Rzepin einen flüchtigen Blick in die Pässe.

Irgendwann schlafen wir. Und so bekommen wir nicht die üblichen Rituale mit: Abhängen in Poznan, wechseln auf den Zug Jelenia Gora - Gdynia. [Disclaimer zur Verwendug der Ortsnamen in diesem Text: Bahnhofsnamen in der Landessprache; Städte je nachdem] Aber das kennen wir alles fast genauso von einer Tour vor gut einem Jahr und so ähnlich auch schon von anderen Touren.

So, 11.8.2002

Frühmorgendliches Wecken, Aussteigen in Tczew. Ein Unterschied zu früher:die Berliner Kurswagen hängen hinten am Zug, nicht mehr vorn. Auf dem Nebengleis steht, wie erwartet, der Elektrotriebwagen nach Elblag. Wir könnten hier auf den in knapp zwei Stunden fahrenden Schnellzug warten oder auch nach dem Triebwagen nach dort vorfahren. Wir wissen, was uns frühstückstechnisch hier wie dort erwartet, und entscheiden uns für den Kompromiss in der Mitte.

[Tczew - Malbork E92 (EN57 1383); 5.48 - 6.12]

Schöne Fahrt durch den sonnigen Morgen, über die Dirschauer Brücke, dann durch Wiesen. Erstaunlich viele Leute haben um diese Zeit schon Bedürfnis, Bahn zu fahren. Dann die Nogatbrücke, und durch die Ausläufer der Marienburg hindurch zum Bahnhof ...
Odjezd - Abfahren! heisst es um 6.16Uhr für den Osobowy nach Elblag in Malbork

Niedergang der polnischen Bahnhofsgastronomie? Ja, aber hier ist die Welt noch in Ordnung. Man hat hier - bis auf die obligaten zwei Reinigungspausen von 8-9 morgens und abends - noch durchgehend auf. Fleischliche Stärkung mit Kielbasa, und Kaffee. Man hat die Wahl zwischen Maschinenkaffee und türkischem. Schöner Raum, teilweise noch mit alter Holztäfelung. Bei uns ginge das glatt als rustikale Szenekneipe durch. Nach dem Frühstück noch auf dem schönen Bahnhof umsehen. Eine Görlitzer Doppelstockgarnitur kommt aus Grudziaz, ein Elektrotriebwagen aus Ilawa, hektisches Umsteigen der Massen über die Gleise zu den Anschlüssen nach Ost und West. Viel Betrieb, Sonntagmorgen vor acht.

[Malbork - Braniewo, Posp. 55111 ( EU07 214, ab Elblag SU45 530);8.14 - 9.30].

Weiter mit dem Schnellzug Gdynia - Braniewo. Braniewo? Ja, sämtliche Verweise auf Kaliningrad wurden gestrichen. Weder auf den Aushangfahrplänen noch auf den Zuglaufschildern findet sich etwas. Überall nur Braniewo. Der Zug: E-Lok, drei Abteilwagen, ein roter Wagen 1.Klasse flankiert von zwei grünen 2.Klassen. (Die gleichen Garnituren kann man auch zwischen Angermünde und Szczecin beobachten). Alle Wagen bestens gepflegt. Das deutet ebenfalls darauf hin, daß diese nicht über die Grenze fahren werden. Lokwechsel in Elblag, weiter gehts mit Diesel zur Grenze nach Braniewo. Die Zeit bei der Fahrt in der netten Landschaft vergeht schnell.

Braniewo endet der Zug. Die gleiche Betriebsführung, wie wir sie vor reichlich einem Jahr beobachten konnten (auch wenn spätere Berichte von einem durchgehenden Zug erzählten): Der Zug endet dort, auf dem Nachbargleis stehen zwei verrottete Mitteleinstiegswagen (wenn auch diesmal nicht mehr solche mit Sicken, sondern etwas neuere) als internationaler Schnellzug Braniewo-Kaliningrad bereit; die Reisenden müssen umsteigen. Die Lok aber bleibt: sie setzt vom angekommenen an den bereitstehenden Zug. Lok- und Schaffnerdurchlauf also. Und anders etwas ist doch anders als bei den früheren Touren: Diesmal steigen auch wir mit um.

[Braniewo - Kaliningrad, Skor. 8, SU 45 530; 10.00 (MESZ) - 13.32(OESZ)]

Zu Vorwendezeiten gab es keine Grenze, selbst die innerdeutsche nicht, die ich so abstrus fand wie diesen Strich durch eine einstmals einheitliche Landschaft, ohne einen einzigen Grenzübergang damals... Wenigstens letzteres ist heute anders.
Polnische Grenzkontrolle am Bahnsteig, und irgendwann setzt sich die SU45 in Richtung der Ex-SU in Bewegung. Zweigleisig, ein Regel-, ein Breitspurgleisb(was ja schon ein ganzes Ende südöstlich von Braniewo beginnt) nebeneinander. Nach gut 10km kommt die Grenze, auf russischer Seite dann Zaun, Doppelzaun mit Wachturm und Postenweg, noch ein Postenweg, Doppelzaun mit Postenweg und Tor. Halt auf freier Strecke, einsteigende Grenzer. Weiter nach Mamonowo, Heiligenbeil.
Dort Halt am Hausbahnsteig. Das Empfangsgebäude ist entweder aus den 50ern oder so verändert worden, daß man es für ein echt russisches halten könnte. Grenzkontrolle; Visa werden geprüft, Pässe gestempelt, Ausreiseblätter eingeklebt. Alles relativ locker. Was fehlt: es gibt keine Zollerklärungen. Ich kannte es sowohl von meiner Rußlandreise 1997 als auch aus den Reiseführern so, daß die Zollerklärung, die man bei der Einreise bekommt, ein ungeheuer wichtiges Dokument ist, daß man die Reise über unbedingt aufbewahren muß. Geldbeträge in allen Währungen sind einzutragen, und man muß darauf achten, daß man nicht hinterher aus Versehen mehr Geld hat als vorher oder gar die Zollerklärung verliert. Sonst droht großer Ärger.

Aber nun? Gar nichts. Es fragt auch keiner. Auch nach unseren Zielen werden wir nicht gefragt.

Irgendwann ist die Kontrolle vorbei, und wir stehen noch eine Weile am Bahnsteig herum. Währenddessen ist auf dem Breitspurgleis ein Dieseltriebwagen gekommen, und fährt nach Fahrgastwechsel wieder zurück gen Königsberg, und auch wir starten irgendwann endlich weiter nach Nordosten.

Seeehr beschauliche Fahrt. Relativ wenig Siedlungen sind zu sehen, dürften vor '45 klar mehr gewesen sein. Diverse Zwischenstationen, Bahnsteige natürlich nur am Breitspurgleis. Bei einigen Bahnhöfen sieht man noch intakte, alte Empfangsgebäude; oft sind aber die alten Gebäude ersatzlos weg, und nur einige Nebengebäude übrig. Mitunter gibts es natürlich auch gar nichts mehr. Nette Landschaft, etliche Störche. In den Siedlungen fallen relativ viele Häuser auf, die gerade neu gemacht werden. Aus Kobbelbude, einstmals Abzweig der Strecke nach Mehlsack-Allenstein (den Südteil der Strecke gibt es noch) ist nun "Ostanowka pri 1507 km" geworden. Irgendwann rechts runter von der Ostbahn. Vierschienengleis; der Breitspurteil ist zwar selten, aber dennoch befahren. Teils liegt das Gleis in tiefem Grün verstärkt, abschnittsweise ist es frisch erneuert worden. (was an der niedrigen Reisegeschwindigkeit aber nichts ändert). Dann Einmündung in die Strecke Ri.Bagrationowsk/Preußisch Eylau. Gleisgewirr, paar Regelspur- zwischen den Breitspurgleisen. Das Tempo verändert sich deutlich: von Schildkröten- auf Schneckentempo. Nach anderthalb Stunden Non-Stop-Fahrt vom knapp 50km entfernten Mamonowo erreichen wir Kalingrad Jushni, den alten Königsberger Hbf.
Die monumentale Bahnhofshalle erinnert an die einstige Bedeutung des Bahnhofs. Heute fahren hauptsächlich Nahverkehrstriebwagen vom einstigen Königsberger Hbf ab.

Schöne, große Halle. Wir kommen auf dem äußersten Gleis im Süden an. Der erste Eindruck den der Bahnhof macht, ist der einer gähnenden Leere. Unser Zug ist der einzige weit und breit, alle anderen Bahnsteige sind leer, und nur wenig Leute da. Das Bild wandelt sich in den nächsten Minuten nach der Passage eines Nahverkehrszuges und durch einen hin und her rangierenden Zug. Nahverkehr: etwa alle 2 Stunden auf den beiden Strecken nach Selenogradsk/Cranz und Swetlogorsk/Rauschen, drei oder vier am Tag nach Mamonowo, Bagratinowsk und nach Osten, einige nach Baltijsk/Pillau, einer nach Sowjetsk/Tilsit. Alles nicht mehr viel. Über die Fernzüge informiert HAFAS. In der Halle ist dagegen mehr Leben.

Und nun kann das Abenteuer Rußland losgehen. Eigentlich Hunger und Durst. Aber erst Geld umrubeln. Die Wechselstelle im Bahnhof macht vor unserer Nase zu: Mittagspause.
Nach nebenan zum Busbahnhof, die meisten Stadtbusse tragen die Beschriftung "Kjonig-Auto"; "Kjonig" ist die russische Schreibung von "König"; bezieht sich also auf den deutschen Stadtnamen. Diverse Biergärten: "Czacs na EB". Das ist polnisch, Zeit für EB, ein Elbinger Bier. Wenigstens in der Nähe gebraut, wenn auch im anderen Land. Unangenehmer ist dagegen die in der Stadt allgegenwärtige Reklame für Gösser, Holsten oder Efes (die aber wohl allesamt russische Töchter haben, und die Königsberger Brauerei scheint zur Gösser-Gruppe zu gehören).
Die größte "Sehenswürdigkeit" der Stadt ist diese Investruine mitten im Zentrum.

Zu Fuß in die Stadt. Unterwegs findet sich schnell etwas zum tauschen. Erste Geldausgabe: an einem Zeitungskiosk gibt's Stadtplan und eine Art Hotelführer fürs Königsberger Gebiet (russisch/englisch) mit Preisen.
Der Dom steht einsam auf seiner Insel; um ihn herum wurde auch nichts neu aufgebaut. Hotelsuche. Der Prospekt nennt eine ganze Anzahl davon. Ganz anders, als ich es vor 5 Jahren in Saratow erlebt hatte: damals gab es dort in einer Fast-Millionenstadt nur ein Hotel; wir zahlten umgerechnet 40DM pro Nacht und Nase, und das waren dank Universitätseinladung noch die Russenpreise. Ausländerpreise waren dreimal so hoch. Diesmal ist es viel einfacher. Zwar werden wir beim ersten Hotelbuchungsversuch auf einem Hotelschiff an der Pregel unweit einer schönen Klappbrücke abgewiesen (übrigens das einzige Mal, daß das auf dieser Tour passiert), der zweite Versuch aber klappt:
Mit dem O-Bus den Moskauer Prospekt entlang; eine breite Ausfallstr. nach Osten. Nach ein paar Kilometern kommt der Betriebshof von Kjonig-Auto, und die haben da auch ein Hotel. Doppelzimmer kostet 700 Rubel, 23 Euro. Mit dem Kurs von 1:30 oder :31 zum Euro haben wir nur anfangs Schwierigkeiten, dann fällt uns als häufigen Tschechienfahrern auf, daß ein Rubel ja fast genauso viel wert ist, wie die tschechische Krone.
Einziger Wermutstropfen dabei ist, daß es keine Dreimannzimmer gibt, und man für das allein genutzte Doppelzimmer den vollen Preis kassiert. Aber für den Anfang schon ganz gut, und es ging erstaunlich glatt. Auch unsere Visa werden registriert (muß man innerhalb dreier Tage nach Ankunft in Rußland getan haben), d.h. mit einem Stempel versehen.
Zimmer ganz ok, mit Dusche und Fernseher. Auslosen, ich gewinne das Einzelzimmer.
In die Stadt. Gegenüber weidet eine Kuh am Straßenrand, eine breite Straße mit zwei Fahrbahnen in einem Plattenbaugebiet.
Einige alte Häuser, Reste eines Tores. Aber das Highlight ist neu: ein Brückentorso. Über Straße und Pregel stehen die Stümpfe einer Hochstraße, die nie fertig gebaut wurde. Dazwischen Lücken, am nördlichen Ende müßten sowieso erst einmal bewohnte Häuser abgerissen werden, bevor es weitergehen kann.
Ohne Worte.

Daneben biegt die Straßenbahn um enge Kurven, an ein paar noch erhalten geblieben alten Häusern vorbei.
Eine Runde Straßenbahn fahren, unterbrochen durch mehrfaches Kwaß-Trinken. Das Zeug (an jeder größeren Ecke steht ein Tankwagen damit) ist gewöhnungsbedürftig, und irgendwie habe ich mich sogar dran gewöhnt. Tatrabahnen, Schmalspurnetz, ziemlich kaputt. Abenteuerliche Kreuzungen. Wir fahren in den Nordwesten der Stadt; lange Fahrt. Fahrkarten gibt's beim Schaffner, 4,50 Rubel (so billig bekommen wir es nirgends sonst auf der Tour). Lange Fahrt, Innenstadt, Nordbahnhof vorbei.

Zurück zum nächsten Abzweig in den Westen, lange auf einen Bus warten, kurze Lückenschlußwanderung zur Endstation der Straßenbahn mitten im Wald. Zum Nordbahnhof an einem großen zentralen Platz. Davor gings ein längeres Stück durch ein Stadtviertel noch mit Häusern aus deutscher Zeit, wo einiges urbane Leben zu sein scheint.
Der Nordbahnhof ist im wesentlichen ein Haltepunkt an einem Gleis in Tieflage; Ri. Süd(Haupt-)Bahnhof geht es durch eine Art Tunnel. Daneben sind, etwas höher gelegen, noch etliche Bahnsteige an Kopfgleisen. Sieht ein wenig so aus wie Berlin-Olympiastadion. So recht genutzt werden diese aber nicht. Am Nordbahnhof fahren nur die Züge Ri. Svetlogorsk(Rauschen) und Selenogradsk (Cranz), letztere dann über die Küstenstrecke auch nach Svetlogorsk durchgebunden. Die Züge fahren etwa alle 2 Stunde, wobei man aber den 9-Uhr-Zug raus gestrichen hat. Mit einer Ausnahme, ein Paar Mittags, fahren aber alle Züge bis zum Südbahnhof durch, also nicht über die Kopfbahnsteige.
Unweit des Bahnhofes finden wir die Gaststätte "Igor Talkow", benannt anscheinend nach einem 1991 ermordeten Rocksänger, der je nachdem als kritischer oder als nationalistischer Geist gilt. Es ist laut, und dank meiner Schwerhörigkeit gestaltet sich die Kommunikation mit dem Personal schwierig. Essen ist o.k. Planungsbesprechung. Thomas und ich sind klar dafür, möglichst schnell weiter zu fahren. Das ist schon mal eine Mehrheit. Eine spätere Frank-Lammers-Memorial-Tour mit ausgiebiger Festungsrestbesichtigung ist in Planung.
Müde in die Straßenbahn (die aber nicht dahin fährt, wo wir sie erwartet hatten). So landen wir auf der Dominsel und nach einem Fußmarsch an Kant vorbei per Obus ins Hotel.
Das Einzelzimmer hat den Vorteil, daß ich abends ungestört von den desinteressierten Kulturbanausen in Ruhe Fußball sehen darf. "Mein" Verein Torpedo Moskau spielt nicht mehr im Torpedo-Stadion, sondern vor wenigen Zuschauern im riesigen Lushniki-Sportpark. Der letzte, Saratow, spielt gegen Meister Spartak Moskau zu Hause 2:2, auch Boris Jelzin guckt zu.