Ende der Welt

Reisebericht von Kai-Uwe Thiessenhusen


Teil X: Das Ende.




Noch mal das Lonely Planet Zitat, ganz vom Anfang dieses Berichtes, frei übersetzt

"Es gibt nichts, was einen Besucher auf Nikel vorbereiten könnte. Selbst die Slums indischer Städte verbreiten wenigstens ein gewisses Zeichen von Hoffnung, während dieser spezielle Vorort der Hölle noch dahinter zu liegen scheint, nur seinen eigenen Gesetzen gehorchend. Und genau deswegen, wie auch wegen des emotionalen Schocks, den man dort unweigerlich erleben wird, ist Nikel ganz unbedingt sehenswert.

Wenn Greenpeace ein Vorzeigeobjekt braucht oder ein Hollywood-Regisseur einen Film für die Apokalypse nach einem Atombombenschlag drehen möchte: hier ist alles bereit für die Kameras..."


Freitag, 24.8.

[Kola -Sapolnarnaja-Nikel, Pass. 651, 13.50 - ca. 22 Uhr, ab Sapoljarnaja 2M62 666]

Hinter Sapoljarnaja ist die Fahrt irgendwie ganz anders geworden als vorher. Der Zug ist nun leer, und wir haben eine neue Lok bekommen. Die sechsachsige M62 war anscheinend nicht mehr stark genug für fünf Wagen. Nun zieht eine Doppeltaigatrommel.

"Kein Zeichen von Hoffnung?" Doch. Der Regen hat aufgehört, die schweren dunklen Wolken haben kurz über dem Horizont einen einzigen kleinen Riß bekommen. Die fast waagerecht stehende Sonne trifft auf diesen und hüllt alles in prachtvolle intensive Farben, darüber die schwarzen Wolken. Lichtspektakel vom Feinsten, fast 70°N, 300km nördlich des Polarkreises, 22Uhr abends.
Das Ende steht unmittelbar bevor, der Himmel brennt.


Vor uns eine unwirklich, völlig surreale Szenerie. Mondlandschaft. Nein, kein Mond, da ist ja ein Wald, aus kleinen toten Bäumchen auf schwarzem Boden. Das Ende der Welt steht unmittelbar bevor... Qualmende Fabrikschornsteine in Fahrtrichtung voraus, wir scheinen direkt hineinzufahren. Weichen, und plötzlich ist Schluß.

Nikel.

Hier ist also das Ende der Welt. Zumindest der Eisenbahnwelt. Die nördlichste Station der Erde, die von Personenzügen befahren wird(*).
Angekommen. 2M62 666 oblag die Beförderung hoch in den Norden.

Ende auch Richtung Westen. Ende der Strecke, und keine 10km Luftlinie entfernt ist der Eiserne Vorhang.

Lok rangieren im Abendlicht. So ein Himmelsfeuerwerk gibt es so schnell nicht wieder. Noch immer steht die Sonne wie angenagelt (polare Sonnenuntergänge dauern lange) überm Horizont. Alle Furcht vor einem eventuellen Fotografierverbot ("Schtraf") ist verflogen.
Vor uns ein kafkaeskes Gebilde aus rauchenden Schloten und anderen Gebäuden: die Nickel-Fabrik. Von einem Ort ist nichts zu sehen. Wir zeigen nach vorne "Geht's dort zur Stadt?" Ja, aber wir sollten doch lieber ein Taxi nehmen, die stünden da vorm Bahnhof.
Ohne Worte (2)


Irgendwo hatten wir schon gelesen, daß die Stadt 3km vom Bahnhof entfernt ist (der Weg, unbefestigt, führt quer durchs Gelände der Fabrik), woanders lasen wir, daß das Hotel sehr schwer zu finden sei. Wirklich gute Gründe für's Taxi.
Wir haben aber zu lange getrödelt. Die meisten Autos sind schon weg. Zu Fuß auf den langen Weg.

Neben uns hält ein Armeelastwagen. Wir wittern Gefahr. Uniformen sind in Russland für uns irgendwie eher ein Anlaß zur Sorge, gerade hier in "sensiblen Regionen". Verhör, Bestechungsgelder? Nichts, wir sollen nur mitfahren. Auf der Ladefläche stehen Bänke. Darin hat sich allerlei Volk gesammelt. Soldaten, Leute mit Gepäck und welche mit Pilzkörben. Und nach kurzer Fahrt durch die Fabrik landen wir in der Stadt, auf einem Platz, und ein freundlicher Soldat führt uns zum Hoteleingang.
Am Haus ist nichts von Hotel zu erkennen, man geht von der Rückseite hinein, wo ein kleines Schild "Gostiniza Ujut", "Hotel Gemütlich," steht. Im vierten Stock die Rezeption, ja, Zimmer frei (als Rückfallebene hätte es ja noch den Zug um 1 Uhr zurück gegeben), Ein DZ für 500 und ein EZ für 320 Rubel. Sehr einfach, Toilette übern Gang, Dusche einen Stock höher, aber sauber und sehr nettes Rezeptionspersonal.
Die Zimmer sind in einem eigentümlichen Giftgrün gehalten (aus DDR-Zeiten kenne ich den Ton aus Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden). Türklinke gibt es nicht, der Griff sieht eher wie eine Abteiltür aus.
Abends noch in die Stadt.
Der Blick aus dem Hotelzimmerfenster fällt auf den Platz, sieht recht gepflegt aus. Eine kleine Grünanlage wird von uns liebevoll "Kurpark" getauft.

Sa, 24. August

Im Hotel wird für Kultur gesorgt: die Hotelbeschallungsanlage, wo sie irgendein Rundfunkprogramm spielen. Thomas ist davon so begeistert, daß er sie die ganze Nacht anläßt, und er am Morgen partout nicht aufstehen will (und auch beim folgenden Stadtbummel nicht zu gebrauchen ist). Ich bin von Nikel so beeindruckt, daß ich überhaupt nicht maule, obwohl es gar kein Frühstück gibt. Die freundlichen Empfangsdamen (die uns erlaubt haben, unser Gepäck im Zimmer zu lassen) haben uns eine Stolowaja, Kantine empfohlen, die ab 10 oder so auf haben soll.
So Zeit für den Busbahnhof. Der ist nicht sehr groß, was kein Wunder ist: 4 Busse täglich nach Murmansk, und vielleicht genauso viel in die Umgebung. Es gibt auch einen Bus Murmansk-Nikel-Kirkenes, aber der scheint den Busbahnhof nicht zu bedienen.
Das tut dafür die Nikel-Stadtbuslinie 7. Es gibt sogar einen Fahrplan, schwarz auf blau auf das die Bushaltestelle ankündigendende Verkehrsschild gemalt: Mo-Fr von 6.02 bis 8.35 und von 15.29 bis 17.28 im 17-Minutentakt. Die Haltestellenschilder sehen aus wie bei der Modellbahn, mit großem quadratischem Sockel, damit die filigranen Konstruktionen nicht umfallen.
Faller-Bausatz 08/15: Haltestelle mit Sockelschild und Fahrplan...


Im Busbahnhofsgebäude, Baracke, Schalter für Bus und Eisenbahn. Fahrkarten für den 14 Uhr nochwas Bus nach Murmansk lösen (dem Grenzer, der uns kontrollierte, hatte ich vorgelogen, wir wollten nach Norwegen weiter, "Nikel und zurück" hätte er wohl nicht so recht verstanden). Morgens hatten wir diskutiert, wie nun am bestern weiter, ein Ziel lockt noch: Petschenga, Liinahamari. Dorthin führt nämlich das nördlichste Gleis der Welt (sieht man wohl von der, m.W. sowieso stillgelegten, Bergwerksbahn in Kirkenes und irgendwelchen mal existiert habenden Grubenbahnen auf Spitzbergen ab, aber beide sowieso ohne Verbindung zum Restnetz der Bahnwelt). Wir lassen's dann (was sich als kluge Entscheidung herausstellen wird). Mit dem Bus kommen wir sowie noch da vorbei.
Und wer sich über Namen wie "Liinahamari" wundert, was ganz und gar nicht russisch klingt: die Gegend kam mit der finnischen Unabhängigkeit zu Finnland. Die Finnen bauten (bzw. ließen bauen) die Nickelfabrik. Im Krieg war die Gegend hart umkämpft, die Fabrik wurde zerstört. Die Ecke um Petschenga und Nikel fiel dann an die Sowjetunion, die eine neue Fabrik bauten. Folge der Erzverarbeitung: gravierende Umweltschäden. Die Fabrik ist immer noch ein wichtiger Arbeitgeber und Geldbringer für die Region; die Umweltschäden mögen *etwas* geringer sein, als vorher, sind aber immer noch massiv da. Und Nikel ist so immer noch ein *sehr* spezieller Ort.

Busfahrkarten: 130 Rubel pro Nase, mehr als das Dreifache vom Zugpreis. (Ist das der Grund, warum soviele Leute dort den Zug nehmen, obwohl der viel länger braucht?) Die Abfertigung zieht sich etwas hin, weil die Verkäuferin zwischenzeitlich den Vormittagsbus abfertigen muß, einen Ikarus-Gelenkbus.

Ums Werk 'rum sind die Wege schwarz, aber etwas weiter wachsen sogar ein paar Bäume in der Stadt. Es gibt sogar ein paar Kleingärten, was nicht nur angesichts des Werkes, sondern auch angesichts der nördlichen Lage erstaunt.
Die Stolowaja hat "aus technischen Gründen" geschlossen. Am Kulturhaus "Woschod" (Sonnenaufgang) steht das unvermeidliche Lenindenkmal. Anders als anderswo zeigt er nicht mit seinem ausgestreckten Arm wegweisend nach vorne sondern steht ganz nachdenklich da...
Ein Stück weiter ein Laden mit ein paar Stühlen zum Sitzen zum Kaffeetrinken.
Dennoch, die Stadt selbst sieht keineswegs so furchtbar aus wie man aus dem obigen Zitat vermuten könnte. Im Unterschied zu vielen anderen russischen Städten haben die Häuser (im Zentrum 50er Jahre-Bauten) allesamt in den letzten Jahren frische Farbe bekommen. Aber die Farbe sieht noch sehr frisch aus, vor ein paar Jahren mag es noch viel schlimmer gewesen sein. Irgendwie scheint es in den letzten Jahren Gelder für die Stadt gegeben zu haben.

Aber wenn man die Stadt verläßt:
Hügel oberhalb von Stadt und Werk. Dort findet man die oben zitierten Atombombenszenarien: Boden schwarz, ein Wald aus armdicken toten schwarzen Bäumen, garniert mit Autowracks. Dazwischen ein bizarres Gewirr aus Leitungen und Holzmasten aus mehreren Epochen.
Blick auf das Nikelwerk. Im Hintergrund: Norwegen.


Der Sammler von Isolatoren (davon haben wir zwei im Reisekollektiv) findet hier reiche Vorräte.. Leider gedeihen nicht nur die Isolatoren selbst, sondern auch ihre Wurzeln prächtig, so daß sie kaum zu pflücken sind.
Kontrast: ein Stück unterhalb der Stadt sieht man einen großen, schönen See, Wälder. Dahinter wieder Berge, wohl schon in Norwegen. Man hat sogar Anfang der 90er über eine Verlängerung der Bahnstrecke bis nach Kirkenes nachgedacht. Dabei blieb es freilich.
Oberhalb vom Werk, eine Straße. Ein Auto hält neben uns: "Können Sie uns sagen, wo es hier zum Bahnhof geht?". Klar, wir können: Stück weiter links und dann den Sandweg durch das Werk, und dann nach anderthalb Kilometern. Aber was will der da? Unsere Verwunderung wird noch größer, weil zwei Minuten später ein Lastwagen neben uns hält, und der Fahrer (wie sein Vorgänger Russe, aber anscheinend fremd hier) genau die gleiche Frage stellt.
Vielleicht wäre es ein lohnender Job, in Nikel ein Touristenbüro aufzumachen?

Sonnabend mittag um 11, der nächste Personenzug fährt in 38 Stunden. Wir gehen durchs Werk zum Bahnhof. Vielleicht ist ja Bahnhofsfest, mit Dampflokparade und Freibier...

Natürlich nichts davon. Aber dennoch lohnend: statt der Dampfloks paradieren, d.h. rangieren, eine Solo- und eine Doppeltaigatrommel und eine Rangierlok. Und sogar die Sonne kommt für einen kleinen Moment heraus.
Neben den Taigatrommeln steht eine ältere TEM2 mit einem Bauzug am Hausbahnsteig, eine weitere direkt am Ende der Welt im Werksgelände.
Viel Betrieb aber weit weniger Romantik am Tage. Eine 2M62 setzt um.



Ein schön himmelblau gestrichenes Bahnhofsgebäude. Sieht ganz normal aus, wie anderswo in Russland. Und vom Stil her keineswegs so, als sei es erst Ende der 60er erbaut worden. (Ist es aber: die Strecke gibt es erst seit 1968).
Es gibt auch einen Warteraum, sogar geöffnet und intakt und gepflegt. Der Fahrkartenschalter ist zu, warum sollte er auch jetzt aufhaben. Ob er vor Zugabfahrt aufmacht, ist nicht zu erkennen.

Das Werk hat freilich Bahnanschluß, aber einen nennenswerten Werkbahnbetrieb scheint es, anders als in Sapoljarnij, nicht zu geben.
Zurück einen anderen Weg (anscheinend einen inoffiziellen, aber niemand ist da, den es stören könnte) mitten durchs Werksgelände. Ein paar Plakate mit Losungen gibt es noch, es qualmt, die Luft reizt zum Husten, und ein Bach plätschert munter vor sich hin, das Wasser scheint die Fähigkeit zu besitzen, Beton rasch aufzulösen. Grrr.

Essen. Im Hotel gibt es nichts, gegenüber ist ein Restaurant. Im Eingangsbereich ist ein Handwerker zugange, irgendwann kommt eine vom Personal, und erklärt, daß es heute irgendwarum nichts gäbe. Schräg gegenüber ist ein Cafe, das müssen wir erst eine Weile suchen. Soljanka und so. Durch den "Kurpark". Büsten von Lenin und Marx (letzteren findet man keineswegs so häufig im Ex-Sowjetland). Gepäck aus dem Hotel holen, und zum Busbahnhof.

(*)(der nördlichste Punkt der Strecke liegt kurz hinter Sapoljarnaja; Sapoljarnaja und Nikel liegen praktisch auf gleicher Höhe; lt. der -zuverlässigen- Karte des Murmansker Gebietes ist der Bahnhof von N.*minimal* nördlicher als der von S.