Ende der Welt

Reisebericht von Kai-Uwe Thiessenhusen


Teil IX: Der Zug ans Ende der Welt.



Freitag, 23.8.

Abschied von Kirowsk. Ich bin richtig sentimental.
Erst Sonne, doch dann zieht es sich immer mehr zu.
Passend zu dem Zug scheint eine Taktlücke der Busse aus Kirowsk zu bestehen, so daß wir kurz nach losmüssen. Noch ein Frühstück für Florian und mich, und dann: Adieu Eccos, adieu Kirowsk! Zumindest mir fällt bei erst bei dieser Ausfahrt das Werksbahngleis auf, daß von der Hauptstrecke hier abzweigt, und lt. Karte im großen Bogen um die Boge 'rumfährt, und dann von hinten an die Tagebaue kommt. Muß mindestens 30km lang sein.

In Apatity sagt uns die Schaffnerin, wo wir umsteigen müssen. Etliche 100m zurück zur Kreuzung, weil dort keine Haltestelle ist. Schnell kommt ein Kleinbus zum Bahnhof.

Ein Schild am Schalter, daß Reisende nach Murmansk sich nicht in die Schlange stellen müssen, sondern sich vordrängeln dürfen. Ist im Moment aber unnötig: untypisch für russische Fahrkartenschalter steht niemand an. Fahrkarten, anders als erwartet nicht für 112 sondern für den fahrplanmäßig vor 5 Minuten abgefahrenen 116 aus Noworossisk. Wagen 21, Plätze, so steht es auf der Fahrkarte, weist der Schaffner zu.

[Apatity - Kola Skor. 116, WL80 2528]

Nette Mitreisende auf dem Bahnsteig machen uns klar, das Wagen 21 ganz hinten zu finden sei. Kurz vor Erreichen des Bahnsteigendes fährt der Zug ein, Wagen 21 und 22 sind vor Wagen 1 vorne eingestellt. Unseren "Helfern" tut das nun furchtbar leid, dabei konnten sie nun wirklich nichts dafür, das war beim besten Willen nicht zu ahnen. Egal, der Halt ist lang genug. Der Schaffner weist uns keine Plätze zu, ist aber auch so klar; genau ein Abteil im vollen Wagen ist frei geworden.
Tee beim Schaffner holen, Landschaft. Nördlich von Apatity, die Strecke ist wieder eingleisig geworden (Die sonst so exakte Supermap bei http://www.parovoz.com/maps/supermap/ irrt hier, weil sie meint, bis Olenja/Olenogorsk sei es zweigleisig). Lange Zeit geht's am Ufer des Imatra-Sees entlang.
Einziger Zwischenhalt: Olenogorsk. Hier zweigt eine elektrifizierte Stichbahn nach Montschegorsk ab, mittlerweile ohne Personenverkehr.
Ein Güterzug erreicht Kola.


Dann weiter schön entlang eines Flusses, zwei Hängebrücken, zu beiden Seiten kleine Berge. Irgendwann größere Häuser, ein Gleis mündet von Links, ein Stück weiter ein Halt. Wir steigen aus. Schaffner: "Das ist nicht Murmansk!" Wir: "Das wissen wir".
Dennoch sind wir erstaunt, wo wir da hingeraten sind: Obwohl Kola, wo wir uns wähnen, Halt sämtlicher Fernzüge von und nach Murmansk ist, fand außer uns kein einziger Passagier aus den 22 Wagen den Halt aussteigewürdig. Links und rechts von uns Güterzüge. Der einzige (legale) Zugang ist, so sieht es aus der Ferne aus, ein Tunnel am hinteren, also genau dem anderen, Ende des Bahnsteiges. Schilder oder ähnliches sind nicht zu sehen.

[Kola]

Wir sind wirklich in Kola, und 20 Wagenlängen südwärts sogar am Ausgang. Unterführung. Eher untypisch für Rußland, meist geht es entweder ebenerdig über die Gleise oder es gibt Brücken darüber. Und völlig untypisch und ausgesprochen lästig: während es vor jedem Fernzughaltebahnhof mindestens einige, meist jedoch viele Kioske, usw. gibt, wo man sich stärken kann, ist hier gar nichts.
Eigentlich wollten wir uns in der guten Stunde Zeit für eine lange Bahnfahrt eindecken...

Bahnhofsgebäude: aus grauen Ziegeln. Fensterfronten nur nach Osten (zu den Gleisen) und Westen, die Nord- wie die Südwand sind völlig zugemauert, bis auf die Eingangstür auf der Südseite.
Umso mehr springen diverse bunte Plakate im sozialistischen Stil ins Auge, die vor dem Betreten der Gleise und dergleichen warnen.
Fahrkarten? Im Bahnhof, aber gerade Mittagspause. Also Ort. Eine trostlose Siedlung. Kein Vergleich mit Kirowsk. Das trübe Wetter tut sein Übriges. Auch der Blick aufs Wasser, der letzte Ausläufer einer langen Bucht der Barentsee, tröstet kaum. Schlammige Areale mit Ölpfützen drin. Vermutlich ein ganz natürliches Phänomen, das der erfahrene Küstenbewohner als "Ebbe" bezeichnet.
Wir finden einen Laden, wo wir uns mit Würsten, Brot und gelben rituellen Flüssigkeiten verschiedener Art eindecken. Was merkwürdigerweise fehlt: Bier aus Kola. Die Brauerei ist dabei nur wenige hundert Meter südlich des Bahnhofes.
Und dann wieder zum Bahnhof. Spannende Frage: bekommen wir Fahrkarten. Im Fahrplan von www.poezda.net sind die letzten drei oder vier Stationen auf der Route mit Sternen bezeichnet, was das heißen soll, weiß keiner. Sperrgebiet? Dürfen wir dort überhaupt hin?

Der Schalter hat auf, und eine stramme Mittelalterliche in Uniform residiert. Fahrkarten ans Ende? Nein. Aber sie verkauft uns welche bis Luostari, 40km davor. 23 Rubel pro Nase für sechs Stunden Bahnfahrt. Den Rest sollen wir beim Schaffner lösen. (Das wird aber richtig teuer werden: 18 Rubel für nicht einmal zwei Stunden Fahrt....)
Und bizarre Bürokratie. Selbst für diesen unreservierten Zug müssen die Pässe vorgelegt werden. Die Namen werden auf die Fahrkarten geschrieben und anschließend die Karten mit einer Schere in zwei Teile zerschnitten. Das, damit es richtig gut wird, entlang einer Zick-Zack-Linie. Ein Teil bleibt da, den anderen kriegen wir.
Die "letzte" Fahrkarte der Welt.


Nach fast 10 Minuten Verkaufsgespräch ist die Fahrkartenausgabe endlich um 69 Rubel (2 1/4 Euro) reicher.
Unsere relativ spontane Entscheidung (da wir in Apatity einen Zug eine Stunde früher als geplant bekamen) doch gleich in Kola umzusteigen, und nicht erst einen Tag in Murmansk zu verbringen, hat sich als goldrichtig erwiesen. Anders als Hafas oder poezda.net sagen, fährt der einzige Personenzug auf dieser Strecke nämlich nur außer Sa, und es ist gerade Freitag.

Auf den Bahnsteig. Dort warten einige einerseits einheimisch, andererseits exotisch aussehende Reisende, vermutlich Sami.
Der Zug kommt, und es beginnt eine Fahrt der ganz besonderen Art.


[Kola- Sapoljarnaja, 13.50 - irgendwann (ca 21.00), Pass 651, M62 1144 ]
Mascha ist in anderen Ländern ein bekanntes Lustobjekt diverser Ferrosexueller (je nach Land auch als "Sergej", "Gagarin" oder "Wumme" bekannt). Hier ist sie eher etwas normales, fast schon langweiliges. In Petersburg sahen wir derartige Kleinloks im Rangierdienst.
Sie zieht eine interessante Wagenkomposition durch die Gegend. Ganz hinten zwei Personenwagen mit offenen Abteilen, wie sie auch als "Plazkartni"-Schlafwagen dienen. Davor ein Gepäckwagen, wofür auch immer (das umfangreiches Gepäck trägt der Normalreisende in der Regel mit sich), davor ein Wagen mit der Aufschrift "Magasin", (Laden), und ganz vorne ein Wagen für die, die nicht freiwillig zu den Schönheiten am Ende der Welt wollen: ein Knastwagen.
Natürlich stehen wir vorne, und sind dann so fast die letzten an den richtigen Türen. Es ist aber egal. Der Zug ist sowie schon gerammelt voll. Schaffnerin: "Wieso steigt ihr alle hier ein. Hier ist kein Platz mehr!" Im anderen Wagen ist es aber auch nicht besser. Wir verteilen uns zwischen den anderen auf den Gang.
Panoptikum von Leuten aller Klassen und Schichten. Ein Gutteil in Uniform, sei es als aktive Soldaten, sei es, weil sich diese Kleidung nun mal hier in der Wildnis bewährt. Dazu größere Mengen Gepäcks. Manche haben wohl eine große Reise hinter sich, andere scheinen irgendwie in die Wälder fahren zu wollen mit Angeln, Körben für Pilze oder Beeren.
Der Schaffner schafft es sogar, sich durchzukämpfen und Fahrkarten zu kontrollieren. Anscheinend ist es normal, daß man am Schalter keine Fahrkarten bis zum Ende bekommt, er fragt jedenfalls jeden, wie weit man wirklich will. Und so lösen wir für die oben erwähnten 18 Rubel nach. Bürokratie - anders als vorher erlebt: keine. Geld nehmen, und das wars.

Strecke: 1960 gebaut. Etwas über 1km südlich des Bahnhofes Kola zweigt sie von der Hauptstrecke Murmansk-Petersburg ab. Über einen Fluß, und dann wird's urban: Hochhäuser, Läden... mitten durchs Zentrum der gar nicht mal so kleinen Stadt Kola.
Ohne Halt. (Bahnhof, wie erwähnt, 2km weiter in der Pampa)

Das erste Stück ist recht spektakulär, an einem See entlang. Noch einige relativ große Orte. Meine Erwartungen, der Zug würde hier leerer werden, zerschlagen sich. Fast niemand steigt hier aus, dafür sogar noch einige ein. Immerhin rückt man zusammen, und es gibt nun sogar Platz zum Sitzen. Sogar zum liegen: ein kleiner Junge, der auf der oberen Liege lag, hat sich zu seinem Vater auf den Schoß gesetzt, und ich darf mich oben breitmachen.

Bahnsteigszene irgendwo unterwegs.


Zu meiner Verwunderung bekomme ich mit, daß die meisten mindestens bis Sapoljarnij wollen. Das liegt erst kurz vor dem Ende der Strecke, und ist von Murmansk eben nicht nur von diesem einmal am Tag fahrenden Zug zu erreichen, sondern auch von vier Bussen, die drei Stunden schneller sind. Warum sind die alle hier in diesem Zug?
Meine Abteilgemeinschaft hat mittlerweile gemerkt, daß sich ein Exot unter sie gemischt hat. Man nötigt mich 'runterzukommen, und ich muß erzählen. Und trinken. "Piwo bes wodki, dengi w weter" (Bier ohne Wodka ist Geld in den Wind). Und essen. Hühnchen und so. Anfängliche Vorbehalte gegenüber den Deutschen zerschlagen sich schnell, als ich die Frage, ob die Deutschen auch Pilze sammeln (was in Russland wohl fast jeder tut), bejahe. (Weil ich selbst keine sammele, sei hiermit allen Pilzsammlern für die Festigung der Deutsch-Russischen Freundschaft gedankt ;-) )
Mein Stammreisekollektiv hat dagegen einige Abteile weiter Unterschlupf gefunden. Es scheint eine weise Entscheidung gewesen zu sein, daß sie, die noch viel weniger Russisch können als ich (oder gar keins), an eine brave Familie mit Deutsch lernenden Töchtern geraten ist, ich dagegen an eine Horde mit (vermeintlich) trinkfesten Eingeboren: Zwei junge Pärchen, die vom Schwarzmeerurlaub heimkehren. Boris, ein Ukrainer, der noch den Krieg miterlebt hat und nun irgendwo in den Wäldern lebt. Ein junger Mann, der Freunde in Sapolnjarnij besuchen will, und der Vater mit seinem Sohn. Die letzten sind erwas ruhiger als der Rest...
Und man fährt durch den Regen. Alles andere als schnell, 8 Stunden für 200km. Landschaft ist eintönig geworden, Wälder aus kleinen Bäumen, ab und an mal ein See. Irgendwie verliert sich in diesem Gleichmaß jedes Zeitgefühl.

Für mich ist es eine richtig spirituelle Erfahrung. Meine (eigentlichen) Mitreisenden spotten über dieses "spirituell" und schieben das auf den Alkohol, den ich trinken darf. Aber es ist doch etwas viel Tieferes.
Die reine Fahrererei geht übrigens gar nicht so langsam, ganz gleichmäßig mit 40, 50 Sachen. Aber da sind die Halte. Diese dienen keinesfalls nur der gelegentlichen Kreuzung mit Güterzügen, sondern haben zwei wichtige Versorgungsfunktionen:
Die Massen stürmen aus dem Zug, Rauchpause. Man kann zwar auf der Wagenplattform rauchen, aber da ist viel zu wenig Platz. Und die Tür des zweiten Wagens öffnet sich, eine Leiter wird hingestellt, und Passagiere wie auch die an der Strecke wohnenden Einwohner klettern hinein und kaufen den darin befindlichen Laden leer.




Dank "Wagon Magasin" bleibt keiner hungrig, alle 50km ist geöffnet.



Irgendwann geh' ich auch 'rein, die Getränke sind ausgetrunken. Und auch Thomas' und Florians' gelbe Flüssigkeit, die ich sonst nur im größten Notfall freiwillig trinken würde, hat bei der Fütterung meiner Zugbegleitung gute Dienste geleistet. Im Laden gibt es Bier in Zweiliterplasteflaschen.

Nach ein paar Stunden lassen die Kräfte meiner Mitreisenden irgendwie nach (während ich selbstverständlich überhaupt nichts merke ;-) Vielleicht auch eine Folge des gelben Power-Drinks ). Der Ukrainer ist nahe dran, sich mit Dmitri, einem der jungen Kerle zu prügeln. Der Schaffner, so etwas vermutlich zur Genüge gewohnt, kann schlichten. Aber Boris versucht immer noch mich vor Dmitri zu warnen... Ich habe mir aber längst schon meine eigenen Meinung gebildet.

Lusostari. Hier zweigt eine Strecke nach Norden, Petschenga, ab. Oder richtiger: hier zweigen wir von jener Strecke ab: Den Abschnitt, den wir nun befahren, gibt es erst seit 1968. Lt. Eisenbahnatlas sollen wir Kopf machen, es gibt aber doch eine direkte Verbindungskurve.
Auf einem "Bahnsteig" im Wald steigt die Familie aus, die meinen angestammten Mitreisenden so nett Gesellschaft geleistet hat.




Das Ende schickt seine Vorboten. Anfahrt auf Sapoljarnij.



Meine "Freunde" verlassen uns in Sapoljarnaja, einem größeren Ort. (D.h. der Ort heißt Sapoljarnij, was von "Pol" kommt. Daß Name von Bahnhof und zugehörigem Ort in verschiedenen grammatischen Formen stehen, passiert häufiger.)

Etliche Autos am Bahnsteig. Anscheinend hat man auf dieser Strecke diverse innovative Konzepte, wie "Laden im Zug" oder "Park & Ride" umgesetzt. Mehdorn sollte sich hier mal schulen lassen. ;-)
Und auf der Rückseite des Bahnhofes ein großer Industriebetrieb, und... ..Fahrleitung!
Anscheinend eine Werkbahn, wohl das nördlichste elektrifizierte Gleis der Welt.
Weiß jemand etwas darüber?
Kamen wir problemlos ohne Kontrollen nun bis hierher, so kommt nun doch eine Grenzbezirkskontrolleur, der die Pässe kontrolliert. Dmitri, der sich noch von mir verabschiedet, stellt sich dem Grenzer als mein "Dolmetscher" vor. Ich habe den Eindruck, daß so ein ziemlich volltrunkener "Helfer" bei dem Grenzer eher kontraproduktiv ist.

Aber egal, wir dürfen weiter, und der Zug setzt sich in Bewegung, dem Ende entgegen....