Ende der Welt

Reisebericht von Kai-Uwe Thiessenhusen


Teil IV: Nach Norden

Fr, 16.8.2002

[St. Petersburg Glawny- Apatity 1, Pass. 527/528, 1.20 - 3.25+25 (16.8)
TschM2 ... bis irgendwo
TEP70 048 bis Medw. Gora
TEP60 185 bis Idel
WL80 2523 danach ]


(Rückblende)
Anderthalb Tage vorher versuchen wir, im Petersburger "Haupt-" oder Moskauer Bahnhof Fahrkarten zu kaufen. Die Zeiten, wo man als Ausländer Fahrkarten nur zum höheren Ausländerpreis an speziellen Schaltern oder in bestimmten Reisebüros bekommen konnte, sind (zumindest erstmal) vorbei. Ganz sicher in der Frage sind wir nicht, als wir uns an eine der vielen Schlangen anstellen. Immerhin steht aber nicht nur "Bilety", sondern auch "Tickets" dran. Klingt doch hoffnungsvoll.
Als vor uns irgendwann später ein paar Deutsche Fahrkarten nach Moskau erstehen (die tiefere Bedeutung dieses Wortes, auf russisch "dostatch - auch mit "stehen" als Wurzel - wird einem in russischen Schlangen so richtig klar), wissen wir, aber, daß wir im Prinzip richtig sind.
Bei uns gibts ein Problem. Beide Züge nach Murmansk, der 21 (täglich um 17.50) und der 11 (im Sommer täglich kurz nach Mitternacht, im Winter seltener) sind die nächsten Tage ausgebucht. Kräftiger Rückreiseverkehr zum Ende der Ferien. Der 185, der noch im Fahrplan steht (jeden 2. Tag) ist gestrichen, und den 931 (Postzug mit Halt an jeder Milchkanne) kann man sowieso vergessen.


Die schwer erstandene Fahrkarte, St. Petersburg - Apatity


Und so empfiehlt man uns den 527, einen an manchen Augusttagen fahrenden Entlastungszug. D.h, nicht wirklich empfehlen, der führe doch nachts hier ab, und ob wir das wirklich wollten? Klar, 1.20 Uhr ab Petersburg ist doch kein Problem. Das Problem ist eher ein anderes, nämlich, daß bei der Addition (1h20min + 26h) mod 24 nichts besonders erfreuliches 'rauskommt.

Egal. Pässe rüberreichen. "Wo steht denn hier der Name auf russisch?", Und wir bekommen drei Fahrkarten, Stück paar über 600 Rubel, gut 20 Euro (weil der Entlastungszug nur ein "Passashirski", kein "Skory" ist, ist es sogar etwas billiger) für über 1200 km.
(Ende der Rückblende)

Ein für russische Verhältnisse ungewöhnlich kurzer Fernzug hinter der Skoda-Gleichstromlok: ganze acht Wagen hat das Teil, darunter ein Außenseiter: einer mit mitteleuropäischem Profil. Zum Glück bekommen wir nicht den, sondern den letzten, einen normalen Kupe-Wagen. Unsere Betten sind auf verschiedene Abteile aufgeteilt, ich reise zusammen mit einer Familie aus Kandalakscha (Vater, Mutter, Tochter). Man gibt mir gleich ein Bier aus. Man hat es gut gemeint: Löwenbräu.
Diskussion darüber, daß Hitler und der Krieg ja nun lange vorbei seien, und wer mehr Schuld hätte, Hitler oder Stalin. Ähnliches werden wir später noch öfter von anderen Leuten gefragt werden.
Bettwäsche kommt, kostet noch paar in den 20ern Rubel extra, und es ist dann ja schon längst Schlafenszeit. Am nächsten Morgen dann in irgendwelchen Wäldern aufwachen. Wir dieseln; hier ist ein relativ kurzes Stück (200km) noch ohne Fahrleitung. Diverse Masten deuten darauf hin, daß man dabei ist, diesen Zustand zu ändern.In Petrosawodsk haben wir, so sagt einer, Kontakt zum 11 gehabt, zum vor uns fahrenden Stammzug.

In Medwesha Gora längerer Halt. Alle paar Stunden halten russische Fernzüge mal länger; Zeit für die Reisenden sich zu verköstigen. Oft kann dies auch bei Einheimischen geschehen, die mit Taschen auf die Bahnsteige kommen. So auch hier, und das vom besten: sehr leckere Teigwaren mit diversen Füllungen, auch Fisch aus den vielen Seen hier. An den Kauf ganzer, sehr appetitlich aussehender Fische, wagen wir uns doch nicht 'ran.
Karelien, hier gibt es noch eine kleine Minderheit, eng mit den Finnen verwandt. Am Bahnhof steht der Ortsname auch in lateinischen Buchstaben, anders als ich es aus den baltischen Republiken kannte, sind russischer und karelischer Name aber nicht identisch.



Ab Idel sorgt Wl80 2523 für Zugraft - aus der Wechselstromfahrleitung.


Nettes Holzempfangsgebäude. Hier ist die (Wechselstrom)Fahrleitung schon in Betrieb. Die Strecke hat man von Norden ausgehend elektrifiziert. Murmansk-Kandalakscha ist schon seit den 30er Jahren unter Draht (dazu später mehr), seit den 70ern geht es bis Louchi weiter, und in den letzten Jahren gab wieder ein ganzes Ende dazu. Ursprünglich mit Gleichstrom, vor wenigen Jahren wurde auf Wechselstrom umgestellt. Das scheint unlogisch, denn bei Petersburg geht es ja das Gleichstromnetz weiter. Vermutlich wird man aber mehr den für den Güterverkehr wichtigen Anschluß von Belomorsk über Onega nach Osten an die Strecke Archangelsk-Moskau im Auge gehabt haben; dort geht es nach einer kleinen Lücke mit Wechselstrom weiter. Oder macht man größere neue Elektrifizierungen mittlerweile generell mit Wechselstrom?

Lokwechsel: Gleichstrom hin, Wechselstrom her: unser TEP70 Großdiesel wird durch einen Vertreter der gleichen Gattung abgelöst. Wir fahren vor Zug 11 ab, was mir unklar scheint, denn wir sollen weit nach diesem in Apatity ankommen. Egal. Weiter nach Norden. Wald. Ab und an ein Ort. Vor Segesha geht es sehr schoen auf einem Damm durch den See.
Ein paar Stunden spaeter der naechste laengere Halt, Idel. Ein kleiner Ort nur. Dass gerade dieses Nest mit einem langen Halt bedient wird, mag damit zu erklaeren sein, dass hier vor einigen Jahren noch die Fahrleitung endete, und also Lokwechselhalt war. In Erinnerung an diese Zeiten bekommen wir auch nun gerade hier eine E-Lok.
Trostlosigkeit, diverse leere Häser, trübes Wetter. Vor einem großen Umspannwerk weiden Ziegen. Als Kontrast dazu spielt das Zugradio irgendwelche Panflötenmusik, was die Sache völlig bizarr macht. Es gibt hier nicht viele Händler, nur ein paar Frauen verkaufen Bier und ähnliches.

Belomorsk also mit dem Abzweig nach Osten, weiter nach Norden wird usnere Strecke wieder zweigleisig.
Ein paar sind ausgestiegen, ein Abteil ist frei geworden, und der Schaffner erlaubt uns, dahin umzuziehen (eine Oberschaffnerin mault später, als sie es feststellt.... Egal.)
In Kem kommt nach dem trüben Tag die Abendsonne heraus.
Wieder ein Langer Halt. Foto von der Bahnsteigbrücke auf dem Zug in der Sonne.
Ein Zivilist fängt uns. "Fotografieren auf Bahnhöfen ist verboten!" und zeigt dazu eine Klappkarte. Innenministerium wohl. Das wiederholt er mehrfach. Gut, haben wir verstanden. Aber was will er nun? Film? Kann er haben, ist gerade gewechselt. Geld? Was denn nun? Aber irgendwie legt seine ganze Visage nur die Vermutung nahe: das ist ein Anscheißer, und sonst nichts. Er funkt seinen Kollegen an. Der ist aber gerade auf dem Hausbahnsteig mit dem 11/12 nach Murmansk beschäftigt. Aha, man hat also den Bahnhof gut im Blick; mir fällt auf, daß es hier auch gar keine fliegenden Händler gibt.
Wirklich traumhafte Fotobedingungen schafft die Abendsonne in Kem...


"Fotografieren auf Bahnhöfen ist verboten". Ja doch, das hast Du nun oft genug gesagt, und wir haben es zur Kenntnis genommen. "Wo ist ihr Dolmetscher?" Hä, wozu in alles in der Welt brauchen wir einen Dolmetscher? Ich weiß, daß mein Russisch eingerostet ist, und das der beiden anderen nur rudimentär bzw. gar nicht vorhanden ist, aber einen Dolmetscher? In diversen Ländern haben wir uns schon problemlos bei noch geringerer Sprachbeherrschung 'rumgetrieben.

Aber das Wundern über Individualreisende in Russland begegnete mir schon früher, und es wird uns auf dieser Tour noch einige Male begegnen.
Es gelingt uns endlich, uns von unserem Verhörer loszureißen, nachdem der den Prowodnik befragt und unser Ziel und Platznummern notiert hat. Unsere Wagengenossen spotten freundlich: "Wohl auf der Brücke geraucht?" Tatsächlich verbietet ein Schild das Rauchen auf derselben.

Es war, um das vorwegzunehmen, das einzige Mal, daß sich jemand an irgendwelchen Fotografien gestört hat. Gut, den Bahnhof von Kem haben nicht mehr versucht zu fotografieren, obwohl wir später noch viel mehr Zeit, als uns lieb ist, dafür haben werden.

Wir halten noch eine ganze lange Weile. Der 11 fährt erst, und danach überholt uns noch ein Zug aus Simferopol. Langsam wird mir klar, warum wir erst 2 Stunden nach dem Stammzug oben ankommen sollen. Unser Freund bewacht jetzt das Empfangsgebäude, und ich hoffe, daß er dort bleibt.
Endlich gehts weiter.

Abendsonne. Unveränderte Landschaft, Wälder und Seen. Louchy, nochmal ein langer Halt. Langsam Zeit, sich hinzulegen, obwohl es noch hell ist. Zwar kein Polartag mehr, aber so richtig dunkel wird es nicht, und selbst die Dämmerung kommt sehr spät. Sommerzeit, und Moskauer Zeit bezieht sich auf einen weiter östlichen Längengrad. So erreicht die Sonne ihren tiefsten Stand erst kurz vor 2.

Irgendwie beginne ich mich nach der Gesellschaft der russischen Familie zu sehnen....Meine Mitreisenden machen nämlich wesentlich mehr Stress und wollen unbedingt den Polarkreis bestaunen (es gibt dort eine Station Poljarni Krug; ist aber ein reiner Marketingname, in Wirklichkeit ist der Polarkreis 20km nördlich, irgendein Denkmal ist dort an den Gleisen).
Florian begeht den Polarkreis noch mit einem festlichen Sachen- Ein- und wieder-Auspack-Ritual.
So wird es eine sehr kurze Nacht.

Sonnabend, 17.8.2002

Als der Zug gegen 3.20 bremst, will sich schon irgendjemand zum Ausstieg bereit machen. Aber wir haben uns eine gute halbe Stunde Verspätung eingefahren, und wir sind erst in einem Ort mit dem sehr polar klingenden Namen Afrikanda.
Morgengrauen, im Hintergrund Berge.... Dann sind wir wirklich da.

Apatity nach 1200km - das Panorama des Chibinygebirges empfängt den Zug.


Soviel besser als 3.20 Uhr ist 3.50 auch nicht. Wir nehmen nicht ernsthaft an, daß die Ordnungskraft aus Kem unsere schweren Verfehlungen nach Apatity vorgemeldet hat. aber als ein Uniformierter sich unserem Wagen nähert, ziehen wir es doch vor, uns unauffällig unter den Rest der Aussteiger zu mischen.

Die WL80 (acht Achsen, Sicken) zieht dann ihr 8-Wagen-Züglein nach Norden; prachtvoller Sound in der Morgenstimmung.